Dienstag, 14. Mai 2013
"ER LIEBT DICH NICHT"
"Er liebt dich nicht" sagte er.
Wie das Mondlicht durch das geöffnete Fenster auf die beiden Gestallten im Zimmer fiel, war es schon fast unbegreiflich wie nah sie sich gegenüber standen, doch wie weit sie nun in Wirklichkeit von einender entfernt waren.
"Er hat es nie getan."
Sie schaute auf ihre Hände. Schwieg.
Für einen kurzen Moment erinnerte er sich an etwas aus ihrer Kindheit. Nur ein kurzes aufglimmen eines Bildes in seinem Kopf und doch erinnerte er sich sofort an die ganze Geschichte.
Er hatte Sie mehrmals gesehen, wie sie vor einem Spiegel stand und sich geradewegs selbst ins Gesicht starrte. Für einen Moment waren ihre Augen hin und her gehuscht, als würde das Gesicht im Spiegel nicht ihr gehören. Als müsste sie jedes Merkmal, jede Falte merken und gut in ihr Gedächnis einprägen, um den Gedanken daran später hervor zu holen und zu gebrauchen. Am ende starrte sie sich immer selbst in die Augen und für einen Moment wirkten diese dann so leer als wären sie tot. Tote Augen im Gesicht eines lebendigen, wunderschönen Mädchens.
Ihn machte es jetzt genauso krank in diesem Zimmer zu stehen mit dem ganzen Spiegeln und der Tatsache das ihre Augen hier tot waren, wie die Traurigkeit darüber, dass sie noch immer den Blick auf den Boden gehefet hatte.
"Verdammt, er hat dich niemals geliebt, verstehst du?" Schrie er ihr nun entgegen.
Er konnte seine Wut darüner, dass sie nicht einmal zusammengezuckt war und immer noch zu Boden starrte nicht mehr bremsen. Er fuhr herum und schlug blindlings in einen der Spiegel, die überall hingestellt und aufgehängt waren. Er zersprang in tausend messerscharfe Teile und der wunderschöne Ramen bracht entzwei. Klirrend fielt alles zu Boden. Doch das war ihm noch nicht genug. Der eine Spiegel war nur einer unter tausenden. Er schlugt noch einmal zu. Diesmal jedoch bewegte sie sich. Sie hielt ihn nicht auf. Doch sie bückte sich und sammelte die vielen, winzigen Scherben auf.
Er stand einfach nur da, betäubt von der eigenen Tat, de er gerade begangen hatte und sah zu, wie sie behutsam jede einzelnen Splitter aufhob und in ein großes gefaltetes Tuch legte. Als der Boden wieder glatt und makellos wie vorher aussah ging sie zu dem Tisch, der mitten im Zentrum der Spiegel stand. Vorsichtig und mit einem leisen klirren legte sie das Tuch auf die glänzend polierte Tischplatte, die selbst ein Spiegel ist. Dann ging sie hinüber zu ihm. Wortlos reichte er ihr die Hand, als sie ein kleineres Tuch aus der linken Tasche ihres langen, gemusterten Rocks zog. Sie tupft seine Hand, dessen Fingerknöchel zu bluten angefangen hatten behutsam ab. Dann lies sie das Tuch in ihrer rechten Rocktasche wieder verschwinden. Wie immer. Ihr Blick war noch immer nach unten gerichtet. Sie standen sich so nah gegenüber, dass sie sich fast berührten und doch wusste er, dass sie in diesem Augenblick sehr weit weg war.Sie war nicht hier bei ihm und ihre Augen waren leer und tot auf den Boden gerichtet.
Dann zuckten ihre Fingerspitzen und sie hob den Kopf.
Immer wieder wünschte er sich sie würde ihn anschauen, wenn sie es nicht tat. Doch wenn es geschah war er nie darauf vorbereitet.
Kupferne, hüftlange Haare, stechend grüne Augen, die jedes mal anders zu sein schienen und das Gesicht einer feinen Porzellanpuppe.
Jetzt waren ihre Augen nicht leer. Sie schaute ihn an. Voller ruhelosem Verständnis und leiser Erwartung.
Am verblüffendsten war es immer noch, dass er ihr überhaupt ins Gesicht schauen konnte.

Dem Mädchen, das seine Schwester umgebracht hatte.
Für einen Jungen, der sie nicht liebte.
Der sie nie geliebt hatte.

Doch mit diesem einen Blick Aus ihren grünen Augen vergibt er ihr.
Weil ER sie liebt.

... comment